Ein Fluss, wie er früher war

An der letzten unverbauten Flusslandschaft Europas – der Peene.

Man nennt es das Amazonas des Nordens. Klingt absurd, doch wenn man die Stadt Anklam und die Peenemündung vom Turm der Nikolaikirche aus sechzig Metern Höhe betrachtet, ähnelt das Szenario tatsächlich einer südamerikanischen Landschaft. Puerto Maldonado am Rande von Perus Regenwald sieht nicht viel anders aus. Die unberührten Flussniederungen der Peene schlängeln sich achtzig Kilometer durch ein Niedermoorgebiet von über 20.000 Hektar, wie in dieser Ausdehnung und Naturbelassenheit in Europa kein anderes existiert. Hier wachsen endemische Pflanzen und Tiere mit poetischen Namen, das Ostsee-Knabenkraut, der Menetries-Laufkäfer das Sumpf-Läusekraut, der Große Feuerfalter.
Ein gelbes, ein rosa und ein blaues Holzhäuschen schaukeln auf dem Wasser. Weggeschwemmte Immobilien, führerlos dahintreibend? Tsunami jetzt auch in Deutschland? Im Gegenteil. Es handelt sich um Bungalowboote, die nach dem Floßprinzip funktionieren, Apartments mit überdachtem Balkon, 10x5 Meter Größe, ausgestattet mit einem 15-PS-Motor. In ihrer abgespeckten Variante heißen sie „Abenteuerflöße“ – man benötigt kein Kapitänspatent für sie. Sie bringen Abenteurer, Paare und Familien auf einer einsamen Strecke mit Schilfrand bis zum Kammerower See. Zwischen ihm und dem Usedomer Haff, auch Peenestrom genannt, hemmen die schwimmenden Häuschen keine Staue, Wehre oder Schleusen – auf dem gesamten Weg hat der Fluss ein Gefälle von lediglich 25 Zentimetern. Die Fließrichtung wird meist von der Großwetterlage und somit den Winden bestimmt.
„Abenteuer Flusslandschaft“ betreibt die Bungalowboote – und hat für diese Region einen der begehrten EU-Preise namens EDEN Award („European Destinations of Excellence“) gewonnen. Die beiden Engagierten, Antje und Carsten Enke, betreiben im alten Anklamer Hafen die Kanustation, in der die Fäden des sanften Tourismus zusammenlaufen. Alles geht hier um einen Herzschlag langsamer – auf den Kajaktouren nach Usedom oder den Flusssafari-Ausflügen mit Solarkatamaranen durchqueren sie die Landschaft, in der Seeadler und Eisvögel ideale Lebensbedingungen antreffen. Unter den 37 Fischsorten, Welsen, Aalen oder Brassen, findet man seltene Wanderfische wie das Flussneunauge. Die Maximalgeschwindigkeit am Fluss beträgt umgerechnet zwölf Stundenkilometer, Motorboote ausgeschlossen. Die Biber halten Katamaransafaris aus. Vom Bord aus kann man beobachten, wie sie sich ins Wasser platschen lassen.
Vorpommern, das bedeutete touristisch immer Ostseeküste und Mecklenburgische Seenplatte, die Peene ist hingegen das wohl am besten geschützte Geheimnis Ostdeutschlands, eine Destination für Eingeweihte, Abziehbild einer strukturschwachen Gegend. Das wird, betrachtet man die zaghaften Aktivitäten der Touristenverbände, auch weiterhin der Fall sein – gut so! Es war nie anders. Wirtschaftlich gab es in diesem moorigen Flusstal außer Brenntorf wenig zu holen, auch die DDR investierte zögerlich und konnte damit wenig zerstören, nur Kurzabschnitte wurden begradigt. Seit 1992 wird im Rahmen eines der größten Naturschutzprojekte Deutschlands an Polderauflösungen und Moorrevitalisierungen gearbeitet, was den Durchzugsvögeln ihre Rastplätze wiederverschaffte, 2011 der Naturpark Flusslandschaft Peenetal gegründet.
Auch bei Anklam gibt es Natur per Fahrrad zu entdecken – das Stadtbruch befindet sich nicht weit von der Mündung in das Haff. Auch hier pures Südamerika. Bis in den Zweiten Weltkrieg wurde Torf abgebaut, was das Moor halbiert hatte. 1995 überflutete eine Sturmflut die Trockengebiete, seit einem Deichbruch holt sich die Natur ihr Sumpfgebiet wieder. Ein bizarrer Anblick, wie Bäume, die meisten schon abgestorben, von den Sümpfen in bedrohlich langsamer Geschwindigkeit verschlungen werden! Quer durchs Moor führt ein alter, schienenloser Eisenbahndamm. Folgt man ihm bis zum Haff, wachsen dort wilde Birnbäume – und plötzlich öffnet sich der freie Blick auf ein bizarres Ruinendenkmal am anderen Ufer, einem Kopf der früheren Hubbrücke Karnin. Bis zum Zweiten Weltkrieg kreuzte hier die Eisenbahn über eine 350 Meter lange Brücke, die bei Schiffsverkehr hochgezogen wurde, zur Insel Usedom bis Swinemünde (heute das polnische Świnoujście). Sie wurde 1945 von der Wehrmacht angesichts des Vordringens der Roten Armee zerstört.
Ein historischer Boden ist Vorpommern sowieso. Früher lebten am Peeneufer Wikinger. Auf einer Sandkuppe bei Menzlin zeugen davon Gräber, acht schiffförmige Steinkreise aus dem 9. Jahrhundert. Zwischen 1720 und 1815 bildete die Peene wiederum die Grenze zwischen Schweden und Preußen. Anklam bestand aus einem preußischen (Altvorpommern) und einem schwedischen Teil (Schwedisch-Pommern) – auf dem Damm steht heute noch die alte Schwedenmühle (1726), damals das bedeutendste Gebäude des Städtchens, in dem auch Recht gesprochen wurde. Heute kümmert sich ein Förderverein um sie, doch in Anklam fließt kaum Geld. Das könnte anders werden, wenn sich herumgesprochen hat, auf welch außergewöhnlicher Erde das Ding steht.

Abenteuer Flusslandschaft, Kanustation Anklam, Antje Enke, Werftstraße 6, D-17389 Anklam, +49-3971242839, info@abenteuer-flusslandschaft.de, www.abenteuer-flusslandschaft.de

Gutshof Liepen, Hotel und Restaurant „Am Peenetal“, bietet eine Wellnesslandschaft und versorgt sich umweltfreundlich über Solaranlagen und Blockheizkraftwerke, www.gutshof-liepen.de; Gutsanlage Stolpe, denkmalgeschützt aus dem 19. Jahrhundert, Peenstr. 33, 17391 Stolpe bei Anklam, info@gutshaus-stolpe.de, www.gutshaus-stolpe.de

Der Autor besuchte Vorpommern auf Einladung von Abenteuer Flusslandschaft.